Vom Hirten und seinen Herden
Stephan Bannas war viele Jahre als Hirte auf der Insel Fehmarn und in der Wildeshausen Geest mit seinen Schafen unterwegs. Bernhard Olberts hat ihn über diese Zeit und seinen Berufe befragt.
Herr Bannas, wie sind Sie dazu gekommen, Schäfer zu werden?
Nachdem ich Ende der 90er Jahre mein Studium der Biologie beendet hatte, sah die Arbeitsmarktsituation nicht besonders gut aus. Ich hatte im Studium eine rein ökologische Ausrichtung gewählt. Zoo- und Pflanzenökologie, meine Diplomarbeit dann über Insekten geschrieben. Mit Genetik, Biochemie oder Mikrobiologie wäre der Einstieg in den Arbeitsmarkt sicherlich einfacher gewesen, aber ich bin nun mal Wald- und Wiesenbiologe. Und dann entdeckte ich die Stellenanzeige vom NABU. Gesucht wurde ein Schäfer für das Wasservogelreservat Wallnau auf Fehmarn. Für diese Stelle waren noch weitere Kenntnisse im Umgang mit Maschinen (Schlepper, Einachsmäher und auch für die Personalführung (Zivis, Föjler, freiwillige Helfer…) gefragt, so dass ich eine Zusage bekam. Ich bin mit Schafen auf dem elterlichen Hof groß geworden und konnte meine Kenntnisse dann auch noch in einem Lehrgang der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein erweitern. Nach vierjähriger Tätigkeit auf der Ostseeinsel bin ich dann aus persönlichen Gründen in die Heimat zurückgekehrt. Dort habe dann als selbständiger Schäfer mit etwa 700 Schafen Naturschutzgebiete in der Wildeshauser Geest beweidet.
Wie muss man sich den Alltag eines Schäfers vorstellen?
Der Alltag der Tätigkeit auf Fehmarn unterschied sich von dem in der Wildeshauser Geest, da ich auf der Ostseeinsel für die gesamte Arbeitsorganisation verantwortlich war. Neben der Versorgung der Schaft-, später auch der Galloway- und Wildpferdeherde, musste täglich das Personal für das Besucherzentrum (etwa 30000 Besucher im Jahr), die Küche und das Vogelmoitoring eingeteilt werden. Für meine Tätigkeit als Schäfer hatte ich hier immer Unterstützung von tollen jungen und auch älteren Menschen aus ganz Europa.
In der Wildeshauser Geest hatte ich dagegen nur zwei Mitarbeiter: Meine beiden Hütehunde. Der Alltag des Schäfers ist durch die Jahreszeit bedingt. Im Januar, Februar ist die sogenannte Lammzeit. Die Herde ist dazu seit November/Dezember eingestallt. Die Lammzeit ist die arbeitsintensivste und härteste Zeit des Schäfers. Ab spätestens 5 Uhr ist man im Stall, selten verlässt man ihn vor 23 Uhr. Die Schafe befinden sich in Gruppen mit bis zu 100 Tieren in Abteilen. Hier bekommen sie ihre Lämmer. Ich hatte immer Schnucken Moor- und Heidschnucken), die meistens Einlinge bekommen. Aber auch Zwillingsgeburten sind häufig. Drillinge, Vierlinge und mehr sind eher selten. Damit Mutterschaf und Lamm oder Lämmer eine bestmögliche Versorgung bekommen können, werden sie für 3 bis 4 Tage in soge-nannten Ablammboxen vom Rest der Herde isolliert. Der Schäfer erkennt so alle möglichen Probleme sehr schnell. Selten muss man bei diesen relativ ursprünglichen Schafrassen die Lämmer ansetzen, damit sie die lebenswichtige Biestmilch in den ersten 24 Stunden be- kommen. Ganz selten muss Geburtshilfe geleistet werden /kann bei Mehrlingsgeburten notwendig sein). Ab und zu kommen Gebärmuttervorfälle vor. Hier gilt es schnell zu reagieren. Die Gebärmutter wird mit lauwarmen Wasser gesäubert und dann wieder in den Leib gedrückt. Um eine Wiederholung zu verhindern, wird die Scheide mit Spezialinstrumenten verschlossen. Natürlich gibt es auch Totgeburten und Lämmer, die kurz nach der Geburt versterben (bis zu 5 % sind „normal“). Auch Muttertiere können bei der Geburt sterben. Auch in diesem Fall muss schnell gehandelt werden. Meistens lammen in solch großen Gruppen mehrere Tiere gemeinsam, so dass das verwaiste Lamm schnell mit der Nachgeburt eines anderen Muttertieres eingerieben werden kann, um es dieser dann „unterzuschieben“. Gelingt dies nicht, bleibt nur die Flaschenaufzucht. Natürlich muss das Lamm aber zunächst unbedingt mit der Biestmilch eines anderen Muttertieres (muss man schnell melken) versorgt werden. Die Flaschenaufzucht versucht der Schäfer, wenn es irgendwie geht, zu umgehen. Lämmer müssen spätestens alle vier Stunden gefüttert werden, gedeihen nie so gut (da fehlen wichtige Immunstoffe der Muttermilch). Verläuft alles gut in der Ablammbox, kommen Muttertier und Lamm nach einigen Tagen wieder in die Gruppe. Um Mutter und Lamm immer wieder zuordnen zu können, erhalten sie dieselbe Nummer mit Spezialfarbe ins Fell gestempelt. Bevor es zurück in die Herde geht, werden Euter und Klauen überprüft (eine Euterentzündung ist i.d.R. tödlich, kann aber relativ einfach unterbunden werden). In der Lammzeit wächst die Herde natürlich schnell stark an. Damit es keine Platzprobleme gibt, werden Mütter mit älteren Lämmern auf die Hofweiden verteilt. Neben diesen genannten Tätigkeiten müssen die Tiere natürlich täglich mit Heu, Kraftfutter und Wasser versorgt werden. Übrigens verfüttern die Schäfer die Nachgeburten, so sie denn nicht von den Müttern selbst gefressen werden, an die Hütehunde.Das fördert die Bindung der Hunde zu den Schafen und umgekehrt. Die Lammzeit ist super anstrengend. Wenig Schlaf, kalte Ställe und Negativerlebnisse. Aber sie ist im Alltag des Schäfers auch eine sehr, sehr schöne Zeit. So nah ist man der Herde sonst nie.
Irgendwann im März/April sind dann die ersten Flächen (trockene Heideflächen) bereit zur Beweidung. Wenn die Flächen es ermöglichen, wird mit Elektronetzen eine Teilfläche abgezäunt. In diesem Fall besucht man die Herde früh morgens, schaut ob alles gut ist und kann noch bis zum Abend anderweitig aktiv sein. Nachts sind die Tiere allein. Meistens kein Problem. Einmal hatte jedoch ein Wildschwein nachts den E-Zaun auseinander genommen. Am nächsten Morgen waren fast 700 Schafe auf angrenzenden Äckern zu finden, etwa 10 Tiere sind im Moor ertrunken. Ist die Nutzfläche nicht einzäunbar, muss gehütet werden. Dann zieht man klassischerweise mit der Herde langsam über das Gebiet. Nachts werden die Schafe dann mit E-Zäunen gepfercht. Während dieser Zeit kontrolliert man den Zustand der Herde. Gibt es Tiere, die krank sind oder lahmen? Viele Sachen kann man selbst behandeln. Wenn es gar nicht geht, muss ein Tier auch einmal zum Tierarzt gebracht werden. Nach der Schafskälte muss dann die komplette Herde zum Hof zurück. Auf der Hofweide wird dann ein Gattersystem errichtet, um die Schafschur durchzuführen. Dazu kommt eine Kolonne von Scherern auf den Hof. Oft waren das Profis aus Australien, Neuseeland oder Osteuropa. Damals zahlte man 2 bis 3 Euro pro Schaf. Mit dem Verkauf der Wolle ließ sich geradeso die Schur bezahlen. Weil die Tiere jetzt für einige Tage am Hof sind, wird jetzt auch noch die Klauenkontrolle (Schneiden und Bad) durchgeführt. Dann geht es wieder raus und im Oktober kommen die Böcke in die Herde. Ein erfahrener Bock deckt dann bis zu 100 Muttertiere. Schafe trage etwa 150 Tage und so schließt sich der Kreis.
Was sind die Höhen und Tiefen bei dieser Arbeit?
Ich war immer sehr, sehr froh darüber, dass ich diese Art der Schäferei in Naturschutzgebieten mit alten Schafsrassen betrieben habe. Im Unterschied zu konventionellen Schafzuchtbetrieben musste ich nicht Lämmer vermarkten. Definitionsgemäß sind Schafe unter einem Jahr Lämmer. Hierfür gibt es einen großen Markt mit guten Preisen. Bei den Schnucken handelt es sich jedoch um langsam wachsende Rassen. Sie werden im Bereich des „slowfood“ vermarktet. Das heißt, die Tiere wurden etwa vier Jahre alt, bevor sie geschlachtet wurden. Höhen und Tiefen liegen in der beschriebenen Lammzeit oft sehr dicht beieinander. Wunderschön ist der Tag des Austriebs. Nach einer langen, harten Lammzeit geht’s raus. Spielende Jungtiere, zufriedene Mütter, die ersten Sonnenstrahlen. Der Frühling ist definitiv die schönste Zeit des Schäfers.
Besonders schlimm waren für mich die Tage, an denen man Tiere zum Schlachthof brachte. Vom ersten Atemzug an ist man stets um das Wohl der Schafe bemüht, kennt die Persönlichkeiten der Tiere. Und dann missbraucht man dieses Vertrauen … absolut nicht schön! Aber diese Einnahmen waren wichtig.
In der Landschaftspflege bekommt der Schäfer Geld dafür, dass die Herde Naturschutzflächen beweidet. Diese öffentlichen Gelder werden flächenbezogen ausgezahlt, pro Hektar. Der absolute Tiefpunkt meiner Schäferkarriere ging mit der drastischen Kürzung dieser Pflegegelder einher. Mit diesen Geldern kam man gerade so über die Runden, reich wurde man damit nicht. Dafür gab es dann viele Entschädigungen im echt schönen Alltagsleben. Mit dieser Kürzung der öffentlichen Pflegegelder war die Existenz meiner Schäferei nicht mehr möglich. Nächtelang habe ich nach Auswegen, neuen Wegen, Alternativen gesucht. Ohne Erfolg. Ich musste den Betrieb einstellen. Fast 700 Schafe an die Schlachterei verkaufen. Ich bin danach tatsächlich Vegetarier geworden. Rückblickend gab es eine Vielzahl von wunderschönen Momenten in meinem Schäferleben. Die Ruhe, die Tiere, die Natur. Das Leben auf das Wesentliche reduziert. Großartig.
Man stellt sich vor, ein Schäfer hat Zeit über Gott und die Welt nachzudenken. Ist das so?
Definitiv. Selbst wenn es denn zeitweise auch hektisch zuging. Da waren immer genügend Räume, um über Gott und die Welt nachzudenken. Und ich habe diese Räume genutzt und genossen.
Sie haben sich dann beruflich verändert. Was nehmen Sie aus dieser Schäferzeit mit?
Für all meine Tätigkeiten nach der Schäferzeit (Zooschule Vogelpark Walsrode, Programmentwickler Universum Bremen, Lehrertätigkeiten) habe ich aus dieser Zeit ganz wesentliche Dinge gelernt: Eine gewisse Gelassenheit und eine besondere Sicht der Dinge. Was tatsächlich, was nur vermeintlich wichtig ist. Diese Erkenntnis wirkt sich natürlich nicht nur auf das berufliche, sondern auch auf das private Umfeld aus. Bis dato hatte ich einige schöne Tätigkeitsfelder, habe immer deutlich mehr Geld verdient und in der Regel sogar Urlaub und freie Wochenenden. Doch immer wieder packt mich die Sehnsucht nach dieser Zeit. Nicht durch eine rosarote Brille bedingt. Sehnsucht nach dem freien Himmel, dem Wetter, den Tieren, den Momenten der inneren Einkehr. Und dann kommt die Erkenntnis: Es gibt einen Unterschied zwischen Jobs (zum Geld verdienen) und der Berufung.
Die Hirten waren zur Zeit Jesu nicht besonders gut angesehen. Wie ist das Ansehen der Schäfer heute?
Da gibt es zwei Gruppen von Schäfern: Die, die betriebswirtschaftliche Bilanzen um jeden Preis optimieren. Die von mir geschilderten Abläufe haben nur noch sehr wenig mit denen in diesen agrarindustriellen Betrieben zu tun. Gutes Geld kann man nach wie vor in der Lämmervermarktung machen. Ich habe Betriebe kennengelernt, in denen im Februar geborene Lämmer dank Lämmermast zur Osterzeit das Schlachtgewicht von 40 Kg erreicht haben. Diese Lämmer haben nie das Sonnenlicht gesehen. Diese Schäfereien können betriebswirtschaftliche Erfolge vorweisen, sind deshalb in Teilen der Gesellschaft angesehen.
Und dann gibt es Betriebe, wie es meiner war. Das Feedback zu meiner Arbeit habe ich immer zweigeteilt erlebt. Für die einen war man ein realitätsfremder Träumer oder Spinner. Möglicherweise war es doch ein Großteil der Gesellschaft, der so dachte. Die drastischen Kürzungen schienen mir immer ein Beleg dafür zu sein. Aber da gab es auch immer Menschen, die den größten Respekt dieser Arbeit zollten, zum Teil voller Sehnsucht oder gar Neid das Leben eines Schäfers betrachteten. Da waren Leute, die mir ohne Anspruch auf Entlohnung bei der Arbeit halfen.
Hirten waren die ersten, die die Botschaft von Jesu Geburt erfuhren. Berührt Sie so eine Evangelienstelle?
Total! Es ist eben das Wesentliche, was zählt im Leben des Schäfers.
Herr Bannas, Sie haben uns einen sehr ausführlichen und sehr persönlichen Einblick in Ihre Zeit als Schäfer gewährt. Vielen Dank dafür und Ihnen und Ihrer Familie eine gute Zeit im Advent und an Weihnachten.
